Flashbacks

Vielleicht liegt es an der Weite des neuen Jahres, die sich im Januar noch so uneinsehbar vor mir dehnte und immer noch dehnt, obwohl wir schon März haben. Oder am vergangenen Jahr mit all den Erlebnissen, die wie ein Baldachin über mir schweben. Anfang eines neuen Jahres jedenfalls packt mich immer das Bedürfnis klar Schiff zu machen, auszumisten, das alte Jahr zu entrümpeln, um Platz zu schaffen für das neue. Eine Schneise fräsen für das, was da kommen mag, vielleicht als Plätschern, vielleicht als heftige Bugwelle.

Dieses Mal nehme mich mir einen Schrank im Arbeitszimmer vor. Es ist „mein“ Schrank. Ich stoße auf allerhand Technikkram, hauptsächlich Fotoausrüstung, teilweise noch analog, jedenfalls schon uralt.

Es gibt auf Facebook eine Gruppe, die nennt sich Willich verschenkt. Ein idealer Ort, um so einiges loszuwerden. Ich will den Inhalt des Schranks auf mindestens die Hälfte reduzieren. Mindestens!

Die wirklichen Schätze aber befinden sich in Schuhkartons: Fotos, Briefe, Postkarten, Glückwunschkarten, kleine Notizzettel, Konzertkarten. Wegschmeißen? No way! Einen Großteil der Fotos kann ich digitalisieren, da sie auf CDs gebrannt sind. Das wird dauern; eine Aufgabe, die mich übers Jahr immer mal wieder beschäftigen wird.

Was aber mache ich mit den Briefen und anderen Relikten der vergangenen Jahre? Also: sortieren, ordentlich bündeln und dann in einem festen Karton im Keller verstauen.

Aber auch das macht man ja nicht mal eben so nebenbei. Ich bin erstaunt, wie viel da zusammengekommen ist innerhalb von 10 Jahren. Es werden ja doch noch Karten und Briefe geschickt. Obwohl … im Laufe der Jahre ist es weniger geworden.

Spitzenreiter unter den Postkarten sind definitiv Iris & Markus. Ihnen gebührt eine Goldmedaille für stetige Grüße aus der Ferne. Menorca. Island, Sorano und immer wieder aus dem Ahrntal. Zeit, sich das mal anzusehen. Witzig dabei, eine Karte ist sogar doppelt und das an zwei aufeinander folgenden Jahren. Großartig.

Auch meine Mutter ist Vielschreiberin. Ihre große und geschwungene Schrift zeugt von der Lust am Schreiben. Es macht Spaß ihre Berichte aus dem fernen Calpe noch mal in die Hand zu nehmen. Ich lese von Wanderungen, viel Wein und Paella, Karnevalsumzügen mit dem Calper Carnevals Club.

Die Briefe meiner Freundin aus Hameln dagegen sind mit dem PC geschrieben, akkurat formatiert, aber hier und da handschriftlich ergänzt. In schöner Regelmäßigkeit trudeln hier Nachrichten ein – trotz Telefon, WhatApp und häufiger Besuche. Einmal im Jahr gibt es einen Jahresrückblick. Eine ganz wunderbare Tradition, die auch ich im vergangenen Jahr aufgegriffen habe. Die wunderschönen, selbst gestalteten Einladungskarten zu den Konfirmationsfeiern ihrer Kinder packe ich dazu, genauso wie Glückwunsch- und Weihnachtskarten.

Apropos: die Zahl der Geburtstagskarten ist unübersichtlich, mitunter ohne Datum und trotzdem blitzt beim Lesen der ein oder andere Gedanke an eine gemeinsame schöne Feier auf.

Mir fällt die letzte Weihnachtskarte meines Stiefvaters in die Hände. Zittrig die Schrift, ein krakeliges Herz ist dazu gemalt. Ich schlucke… und schlucke nochmal. Es ist egal, wie lange es her ist. Ich habe sehr an ihm gehangen. Es tut weh.

Einige Briefe oder Karten enthalten Fotos, zeugen von schönen Urlauben, glücklichen Festen, manche auch von etwas ausufernden Feten. Zwei Hochzeiten sind dabei, außerdem eine silberne, eine goldene. Ein Hoch auf die Liebe.

Und das Leben. Ich bin erstaunt, wie viele Trauerkarten schon dabei sind. Abgesehen von den eigenen Lieben, die Eltern von Freunden, meine Gynäkologin, die ich sehr geschätzt habe, die Freunde von Freunden, Freunde. Viel Leben im Leben, aber auch viele Sorgen.

Ein Brief mit Seltenheitswert fällt mir in die Hände. Das eigene Kind schreibt aus dem fernen Australien über Begegnungen, Zukunftspläne, neue Freunde, das Wetter und dass es zu viele Socken dabei hat. Und auch, dass sie dankbar ist für die Freiheit überall hinreisen zu können, ihre Meinung kundtun und so viel erleben zu können. Hab‘ ich das in dem Alter auch schon so klar zu schätzen gewusst?

Karten und Glückwünsche der besten Freunde bündle ich auch extra, muss herzlich lachen über so manches selbst gestaltetes Exemplar mit frechen Sprüchen. Was für ein Glück so wunderbare und humorvolle Freunde zu haben.

Es braucht viel länger als einen Nachmittag mich durch die Wortschätze zu wühlen. Ich tauche ein in ein Stück Vergangenheit. Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf, Gefühle und Lachen schwappen hoch. Ich habe sogar plötzlich den ein oder anderen Geruch in der Nase. Auch Zerwürfnisse ziehen mit einem kleinen Schatten vorbei. Aber es ist wie es ist wie es ist.

Am Ende fühlt es sich gut an alles gesichtet, sortiert und verräumt zu haben. Da ist Platz für Neues, Neues im Alten, ganz Neues, auch Platz für Wiederholungen.

Ich bin gespannt, was das Jahr so bereithält, auch wenn ich schon mitten drin bin.

Text und Fotos: ©Andrea Steffen