Aus den Fugen

Barcelona in der Nacht vom 19. Oktober 2019

Mich erreichen Bilder aus Barcelona, wie ich sie vor zwei Wochen nicht für möglich gehalten habe. Brennende Müllcontainer, zerstörte Fensterfronten, mit Schutt übersäte Straßen, aufgerissene Bürgersteige, aus dem Boden wie um Hilfe schreiende Drahtgeflechte, zerstörte Geldautomaten, umgeworfene Barrikaden, Absperrbänder überall, Haufen von abgefeuerten Gummigeschossen,  aufgetürmte Steine, bereit, um sie zu werfen, in Plünderung begriffene Läden. Immer wieder der Schriftzug ACAB (All Cops are Bastards).

Wie nach einem Bombenangriff

Gespenstische Szenerie

Alles beleuchtet von einer blau-blinkenden, mit gelben Rauchschwaden durchzogenen Szenerie. Dazwischen mit ihren Handys filmende Menschen, Zuschauer am Straßenrand, sichtlich geschockt, Menschen die in einem halb zerstörten Bushaltehäuschen auf einen Bus warten – vergeblich. Ein einzelner älterer Mann, einen Rollator oder Einkaufswagen vor sich, mit Kleidung oder Decken beladen, in Schockstarre. Was geht ihm gerade durch den Kopf? Was ist aus seiner schönen Stadt geworden? Eine einzelne Frau mittleren Alters, die dem Schutt mithilfe einer Schaufel zu Leibe rückt und geräuschvoll die Schüppe über den Asphalt zieht. Eine hilflose Geste. Eine mutige dazu, denn diese Frau ist offensichtlich von Separatistenanhängern umringt und macht keinen Hehl daraus, dass sie Pro-Spanien eingestellt ist.

Ich bekomme Gänsehaut.

Live dabei

Diese verstörenden und beängstigenden Bilder stammen von meinem Kind, von letzter Nacht, auf Instagram gepostet mit einem Hinweis auf dem ersten Foto „I’m fine and safe at home. The puprose of this content  is to simply share what I have seen, without taking any side.“

Und plötzlich hat all das eine ganz andere Dimension.

Was ist passiert in den letzten zwei Wochen, in denen wir diese wunderschöne Stadt genossen haben? Am 2. Oktober 2019 noch gingen 18.000 Menschen friedlich auf die Straße. Die Demonstration am Passeig de Gràcia haben wir hautnah miterlebt. Tröten, Gesänge, Fahnenschwenken. Wir kamen ins Gespräch mit einem der Demonstranten. In erster Linie ging es ihnen exakt zwei Jahre nach dem Haftbeschluss gegen des früheren katalanischen Regierungspräsidenten Puigdemont um Meinungsfreiheit, um die Wahrung demokratischer Grundrechte und erst an zweiter Stelle um die seit Jahren schwelenden Unabhängigkeitsbestrebungen.

Vermummung unverwünscht

Ein junger Mann mit Kapuze kam vorbei. Unser Gesprächspartner bat ihn höflich, die Kapuze abzuziehen. Keine Vermummung bitte. „Wir gehen offen mit unseren Forderungen um.“

Die Separation Kataloniens vom Rest Spaniens halte ich persönlich für einen ähnlich unsinniges Ansinnen wie den Brexit, wirtschaftlich gesehen eine Vollkatastrophe, schädlich für das Land und für Europa überhaupt, ein Schwachsinn hoch drei. Aber sind die jetzt bis zu 13 Jahren erlassenen Haftstrafen für Politiker und Aktivisten, die 2017 ein Referendum zur Unabhängigkeit Kataloniens VERSUCHT haben, nicht unverhältnismäßig hoch? Und ist deshalb ein Gericht nicht auch mit verantwortlich für die aktuelle Eskalation? Andererseits gibt es keine Rechtfertigung für diese Gewalt.

Zwiegespalten

Mir ist klar, dass die spanische Regierung eine Verfassung hat und ein Regierungsmitglied sich dieser Verfassung mit Annehmen seines Amtes verschreibt. Er wird darauf vereidigt.

Aber ist politischer Ungehorsam und das Recht für das zu kämpfen, was man für richtig hält, nicht Teil unserer Demokratie? Ich finde das Anliegen der Separatisten wie gesagt schädlich für das ganze Land. Aber genauso schädlich finde ich es, diese Menschen mundtot machen zu wollen.

Gab es nicht auch schon Bestrebungen unseres schönes Bundeslandes Bayern sich vom Rest der Nation zu spalten, weil man einen großen Batzen am Bruttosozialprodukt erwirtschaftet? Ist es nicht legitim, zumindest das zu wollen und dem Ausdruck zu verleihen?

Auf der anderen Seite berichtet unser Kind, dass wenn man gestern in Barcelona die Separationsbewegung in Frage gestellt hat, eben auch mit Steinen beworfen wurde. Also eine Nulltoleranzpolitik in beiden Lagern, keine Meinungsfreiheit auf beiden Seiten.

Respekt für Politiker

Kürzlich schrieb mir ein lieber und schlauer Mensch, er hätte das Gefühl, die Welt geriete aus den Fugen. Und das scheint sich auch mit dem Wiederaufflammen des katalanischen Unabhängigkeitskonflikts zu bestätigen.

Ich bewundere Herzblutpolitiker wie Jean-Claude Juncker, die es immer wieder schaffen zerstrittene Parteien an einen Tisch zu holen, sich zum x-ten Mal ein und denselben Sermon anzuhören und sich häppchenweise einer Lösung zu nähern, die nach langen und zähen Verhandlungen einen Kompromiss ergibt.

Und ich fasse es nicht, dass ein Querulant namens Boris Johnson mit seiner Unverschämtheit der EU die gleichen Zugeständnisse abringt, an denen seine Vorgängerin und Wegbereiterin Theresa May gescheitert ist. Und sich hochleben lässt, um dann vielleicht doch wieder zu scheitern, weil er in den eigenen Regierungsreihen keine Mehrheit findet. Ich fasse es nicht, dass im demokratischen Königreich der immer lauter werdende Ruf nach einem weiteren Brexit-Referendum schlichtweg abgeschmettert wird nach dem Motto „Das habt ihr davon, dass ihr uns geglaubt habt. Eure Meinung ändern könnt ihr jetzt nicht mehr, selbst wenn ihr es wollt.“

Despoten teilen die Welt

Ich fasse es nicht, wie ein amerikanischer Präsident mit selbst attestierter „unendlicher Weisheit“ durch den Abzug seiner Truppen aus dem Norden Syriens den Rücken des eigenen Erzfeines IS stärkt, wie Europa sich feige hinter Worten verschanzt und die Kurden, die jahrelang für ein Gleichgewicht im Norden Syriens gesorgt haben, jetzt fallen lässt. Ich fasse es nicht, wie ein für mich offensichtlich aufgrund seines Narzissmus geistig umnachteter Erdogan mit dem im Narzissmus ebenbürtigen, aber zumindest intelligenten Putin gemeinsame Sache macht und sich alle drei Despoten nun für die gerade mal 120 Stunden währende Waffenruhe feiern lassen.

Und ich fasse es noch weniger, dass eben diese drei Machthaber immer noch eine treue Gefolgschaft und eine große Menge an Unterstützern hinter sich versammeln.

Aus den Fugen

Ja, die Welt geht aus den Fugen. Sie war noch nie gekittet, das ist wohl wahr. Es gab immer auch schwerwiegende Konflikte, aber das Gefühl, dass diese überhandnehmen und einen immer stärkeren globalen Einfluss haben, drängt sich mir auf.

Und was ist mit meinem Kind da mitten in Barcelona? „Hast du nicht Angst?“, werde ich dieser Tage immer wieder gefragt. Natürlich habe ich Angst. Aber unsere Tochter könnte ebenso Ebola bekämpfen in Afrika oder Fotoreporterin in Kriegsgebieten sein oder verdeckte Ermittlerin im Kampf gegen Drogen. Sie ist ein politisch denkender Mensch. Natürlich geht sie auf die Straße, da wo sie lebt und fragt sich was gerade passiert, versucht zu verstehen und Antworten für sich zu finden.

Und genau das ist eine der möglichen Antworten auf die aus den Fugen geratene Welt: sich mit dem Thema beschäftigen, hinschauen, diskutieren und vor allem ja nicht die Klappe halten. Möglichst bitte ohne sich in Gefahr zu bringen. Aber es fängt im Kleinen an. Stammtischparolen Kontra geben, Mitmenschen auf ihre AfD-Affinität ansprechen, wählen gehen, Dummheit Parolie bieten und auch mal ein Plakat auf einer Demo friedlich mitschleppen.

Klappe auf für die Demokratie!

In diesem Sinne

Fotos: ©Merle Steffen
Text: ©Andrea Steffen

2 Antworten auf „Aus den Fugen“

  1. Oh, mann. Dieser konkrete Krawall in Barcelona ist hier in den Nachrichten eher untergegangen.
    In deinem Text kommt gut die Zerrissenheit zwischen verstehen (wollen) und der Durchsetzung mit drastischen Mitteln heraus. Du ziehst aber auch eine nachvollziehbare Grenze dazwischen. Und, ja, imGespräch bleiben und Position beziehen!

    1. Danke, Peter. Stellung beziehen wird meiner Meinung nach immer schwieriger je komplexer die Thematik ist. Was die Separatisten in Barcelona antreibt, entspringt ja auch einer langen Historie, die ich nicht kenne. Ich habe zunehmend das Gefühl mich in egal welches Thema jetzt immer mehr einlesen zu müssen, ehe ich in der Lage bin Position zu beziehen. Manchmal bleibt da lediglich das Bauchgefühl, was richtig und falsch ist. Und ob das immer so passt, sei mal dahin gestellt. Dennoch habe ich zumindest das Gefühl für antidemokratische Bewegungen das richtige Gespür zu haben.

Kommentare sind geschlossen.