Zeitsprünge

Sie hat absolut keine Ahnung, wie sie wirkt. Jedenfalls in dem Moment nicht.

Die Bräune harmoniert gut mit den weißblonden Haaren. Sie scheint zu leuchten. Der Kurzhaarschnitt betont ihren langen Hals und man möchte ihr einfach immerzu die Hand in den Nacken legen. 

 

Ihr ist gar nicht klar mit welcher Nonchalance sie sich bewegt, mit spitzen Fingern kleine Döschen aus dem Regal fischt, die Stirn leicht runzelt, während sie heilversprechende Ingredienzien entschlüsselt, verwirft oder gut heißt. Mit einem Schwung landen die Dinge im Einkaufskorb, die für 16-jährige lebensnotwendig sind: Fußbad, Haarfärbemittel, Körperspray, Schaumfestiger, grüner Nagellack …

 

Ich halte mich ein wenig abseits, tue so als wäre ich ebenso wie sie in das Lesen eines Anti-Aging-Produkts vertieft. Dabei geht es dann meist eh nur noch ums Entziffern ohne Lesebrille. In Wahrheit genieße ich das Schauspiel, das sich da vor mir ausbreitet. Sie mag es nicht, wenn ich „starre“, wie sie es nennt. Ich nenne es Erinnerungen schöpfen. Ein Vater mit seinem vielleicht 12-jährigen Sohn biegt um das Regal herum. Der Junge bleibt abrupt stehen und starrt sie an. Auch er kann nicht wegsehen. Sie wirft ihm einen Blick zu. Ihre Wimpern werfen dabei Schatten. Sie verzieht keine Miene und konzentriert sich wieder auf ihr Tun, sprüht ein wenig mit irgendeinem Zeugs herum, dann auf ihr Dekollète, hebt die Nase schnuppernd in die Luft und leckt ich einmal über die Lippen. Ich glaube der arme Jüngling fällt gleich in Ohnmacht. Ich grinse. 

 

Zielsicher landet Rasierschaum im Korb. Sie greift in ihre Shorts und zieht ihr Handy hervor. Ihre Bewegungen sind versiert, der Daumen wischt über die Oberfläche und mit einer mir unverständlichen Geschwindigkeit schickt sie eine Message in den Orbit und hat in Sekundenschnelle ihr Handy wieder in die Shorts gleiten lassen. Ich komme mir plump und ungelenk vor, bin es auch, aber habe ja zum Trost das Geld mir das Anti-Aging-Produkt zu leisten ;-).
Mit der linken Hand fährt sie sich kurz durchs Haar und ein kleiner Schatten huscht über mein Herz. Diese Zecke im Haar während des Schwedenhaiks. Ach Quatsch, nicht dran denken, alles gut. Vergiss es. 

 

Und mit einem Mal fallen die Erinnerungen über mich her wie eine Schar Ameisen über einen Klecks Frühstücksmarmelade. Ich sehe sie mit der ersten Zahnlücke stolz die Schultüte tragen; weit davor beim Schlafen auf dem Bauch noch mit Schnuller und feuchten Löckchen. Der Schnuller bewegt sich langsam und rhythmisch und ihr Brustkorb senkt und hebt sich regelmäßig. In der 3. Klasse hat sie uns in der Übermittagsbetreuung einen wunderschönen Holzengel zu Weihnachten geschnitzt. Ihr Berufswunsch stand felsenfest: Schreiner. Der Engel steht weiter an meinem Bett. Berufswünsche gab es viele mittlerweile.

 

Oder als wir ihr damals die Möhre gaben, um sie an die Hasen im Tiergehege zu verfüttern. Sie war 2 ½. Den Blick werde ich nie vergessen. Sie guckt ersten die Hasen an, dann die Möhre, schüttelt leicht den Kopf und beißt herzhaft zu.
Was war sie tapfer, als ich sie im Rollstuhl durch die Krankenhausflure schob, in der Hand die selbst gebastelte Laterne, die für den Martinszug gedacht war.

 

Ich sehe sie damals in Ratingen auf dem Balkon, wie sie den beim Waldspaziergang gesammelten Ast in einer Waschtonne sitzend schrubbt. Sie hatte mal sowas wie Putzattacken. Das ist lang vorbei. Leider. Oder wie sie immer nach dem Fußballtraining zu meinem Leidwesen die Schuhe mit Schmackes von den Füßen kickt und dann über den Kühlschrank herfällt. 

 

Ein Flut von Bildern überrollt mein Hirn. Oh Mann, ich werde doch jetzt hier zwischen all den Duftwässerchen und Badesalzen nicht etwa ein paar Tränen verdrücken! 

 

Ein „Mama! Mama! Das musst Du sehen, übelst krass“, rettet mich. Vermutlich geht es um den schmerzfreien und vollautomatischen Augenbrauenkorrektor oder sowas. Der sentimentale Moment verfliegt und ich zücke die Kreditkarte. „So langsam ist der Korb voll genug.“ Zeit, das Kind auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Dabei war sie gar nicht abgehoben. Ich war es. Ich bin zeitgesprungen.

 

 

2 Antworten auf „Zeitsprünge“

  1. Schon möglich, dass sich so manches verklärt mit der Zeit, Idy. Allerdings trifft das auch auf die Situationen zu, in den man sein Kind regelmäßig gegen die Wand … also ich meine … Du weißt, was ich meine! Danke für den Kommi!

  2. Beim Lesen gingen auch meine Gedanken auf eine Reise in die Vergangenheit.
    Teilweise durch Erinnerungsoptimismus verklärte Gedanken, manchmal mit einer gewissen Unsicherheit,ob es der Kleine, der Große oder gar das Töchterchen war.
    Auf jeden Fall war jeder Gedanke ein Erinnern wert und ich danke für diese Zeit an einem sonnigen Spätsommernachmittag
    Idy Doenneweg

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