Wilma, mein Täubchen!

Ich war beeindruckt. 

Da liegt man so mehr oder weniger dekorativ auf der Terrasse rum und spürt instinktiv: Irgendwas ist anders.

Es war der Ton, der mich irritiert hat. Ein zartes Fiep-Piepen. Und siehe da, unter der Kastanie saß ein wolliges Knäuel und gab konstant dieses zuvor nie bewusst gehörte Geräusch von sich. Ich bin ja einiges gewohnt an Getier aus unserem Garten, dazu wohnen wir direkt am Feld, die Ernten kriege ich voll mit, die Balzrituale der Fasane, die Wettrennen von Karnickeln und Hasen. Maulwürfe, Igel, entwischte Hunde, Marder, Frösche, Libellen, Lurche, Schmetterlinge, Hummeln, Bienen, Ohrenkneifer, Eichhörnchen in Hülle und Fülle. Die eine Million Nacktschnecken nicht zu vergessen, alles schon dagewesen. Aber so ein kleines graues, fiependes Wollknäuel war mir noch nicht untergekommen.

Bei näherer Betrachtung stellte es sich als Taubenküken heraus. Ganz offensichtlich war es durch den Sturm in der Nacht zuvor aus dem Nest gekegelt worden. Nicht, dass ich für Tauben viel übrig habe. Eigentlich nerven sie mich jedes Jahr, wenn sie in der Kastanie brüten. Dieses beständige Gurren, die abgeknickten Zweige der Johannisbeeren, weil sie die Last der fetten Viecher nicht tragen. Und dazu die ätzenden Hinterlassenschaften auf dem Trampolin, den Autodächern, dem Gartenhaus.

Aber dieses gar nicht scheue Vogeljunge war doch ziemlich süß.

Nur, was macht man mit dem Vieh? Nichts. Abwarten. Die Eltern hüpften hilflos um ihr Junges herum und schlugen sich dann in die Büsche. Rabeneltern.

Kater Nummer eins hatte das gefallene Täubchen mittlerweile auch entdeckt und tigerte ramdösig an der Fensterfront innen im Wohnzimmer entlang. Hin und her, hin und her. Kater Nummer zwei hatte den Schwanz von Kater Nummer eins im Visier. Immer hinterher. Nee Jungs, wenn ich euch jetzt raus lasse, habe ich hier direkt Taubengeschnetzeltes. Das muss ja nicht sein.

Mittlerweile war das Täubchen auf Erkundungstour durch den Garten, nahm ein Fußbad in der Vogeltränke, zupfte an der Kappuzinerkresse, legte den Kopf schief, duckte sich unter die Funkien, sträubte das plustrige Gefieder, wippte mit dem Schwanz, hüpfte auf und ab, zwinkerte und legte sich irgendwann unter die Kastanie neben einen Terrakottatopf.

So weit, so gut.

Unsere Kater sind Freigänger, irgendwann musste ich sie also rauslassen. Gut, dann also nach vorne raus Richtung Feld. Vielleicht haben wir Glück und sie kommen auch vorne wieder rein.

Natürlich nicht!

Was ich dann aber sehe, erstaunt mich zutiefst: Beide Kater sitzen in ungewohnter Eintracht kerzengerade im Garten ca. 50 cm von der Taube entfernt und gucken – mit vibrierenden Schnurrbarthaaren. Sonst nichts. Die Taube guckt zurück. Sonst nichts. Irgendwann wird es allen Beteiligten zu langweilig. Sie trollen sich. Die Taube bleibt, wo sie ist. Ich bin gespannt, ob sie die Nacht überlebt.

Am nächsten Morgen ist sie noch da, ziemlich lebendig für eine kühle regnerische Nacht. Spätestens jetzt muss sie doch vor Hunger schon ganz schwach sein. Keine Spur! Sie übt Hüpfen von Blumentopf zu Blumentopf und nimmt ein Sonnenbad. Die Kater begrüßen sie kurz und ziehen Leine. Meine Nachbarin hat sie mittlerweile Wilma getauft. Ich gehe zur Arbeit.

Am Nachmittag gönne ich mir ein Lesepäuschen auf der Terrasse. Wilma ist noch da. Ich weiß nicht, wie sie überlebt, aber sie überlebt. Auch die nächste Nacht. Unverändert hüpft sie auf der steinigen Einfassung rund um die Kastanie und flattert versuchsweise herum. Ihr stoisches Durchhaltevermögen beeindruckt mich. Respekt.

Gleichzeitig lässt mir das keine Ruhe. Ich rufe den Taubenzüchterverein ein. Natürlich kann man dort mit einer Wildtaube nichts anfangen, aber der Profi beruhigt mich. Die Taube würde von ihren Eltern gefüttert und sicherlich in ein paar Tagen davonfliegen.

Aha! Gut, dann glaube ich das mal. Und siehe da, irgendwann kriege ich die Fütterung mit. Die Taubenmutter lockt Wilma mit gurrenden Lauten an unseren Zaun und nutzt einen halb umgestülpten Speißeimer für die Speisung der Hungrigen. Raffiniert. Wofür die Natur doch so alles Sorge trägt. Alle Achtung.

Am nächsten Morgen begrüße ich Wilma beim Raustragen des Mülls. Mopsfidel und keck guckt sie mich an, macht keine Anstalten abzuhauen. Ich gehe trotzdem auf Distanz. Schließlich will ich kein Haustäubchen großziehen. „Wilma, ich geh‘ jetzt ins Büro, bleib sauber.“ Was man halt so sagt zu seinen Lieben, wenn man das Haus verlässt.

Nach Büroschluss ziehe ich mit einer Tasse Kaffee meine Runde durch den Garten, wie meistens wenn ich erstmal runterkommen will. Auch wie meistens schleichen die Kater auf der Jagd nach Streicheleinheiten hinterher. „Wilma? Wilma?“ Keine Wilma zu sehen.

Und dann doch. „Inglourious Basterds“ schießt mir durch den Sinn, dann das Wort „Taubenschlag“. Der Anblick ist mir vertraut. Das war mit Sicherheit ein Raubvogel, ein Bussard vielleicht.

Schade, ich hätte es Wilma gegönnt, auch wenn sie dann in der Kastanie genistet und dauernd auf unsere Markise gekackt hätte.

Ich beseitige die Hinterlassenschaften und gönne mir ein Schnäpschen.

Auf dich Wilma, du stoische Seele!

 

4 Antworten auf „Wilma, mein Täubchen!“

  1. Hallo Christiane,
    prinzipiell ist das schon möglich. Lt. Taubenzüchterverein nehmen die Eltern die Küken auch noch an, wenn man sie angefasst hat (nicht so Meisen, Amseln etc.). Leider nur ist das Nest über 5 m hoch in der Baumkrone der Kastanie. Da kommt man nicht dran. Sonst hätten wir es sicherlich versucht.

  2. Ach, schade! Das nennt man wohl "natürliche Selektion". Was ich mich frage: Hätte man versuchen können, sie ins Nest zurück zu setzen, jetzt mal vorausgesetzt, man findet das Nest? Oder werden die dann von den Eltern verstoßen, weil sie nach Mensch riechen?

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