Corona-Tagebuch – 2. Eintrag

Heute früh habe ich unter der Dusche in die Armbeuge geniest. Die Hust- und Niesetikette (das Wort des Jahres 2020?) habe ich schon mal verinnerlicht. Aber auch sonst hat Corona mich am Wickel.

Wenn jemand fragt, sage ich, dass es mir gutgeht. Weil ich es guthabe. Alle in meinem Umfeld sind gesund. Bisher konnte ich auch noch im Büro arbeiten, d.h. ich konnte überhaupt arbeiten und bin noch nicht nach Hause geschickt worden. Und falls doch, arbeite ich in einem Unternehmen, das mit Sicherheit kulante Regelungen für seine Mitarbeiter finden wird. Ich muss nicht befürchten jetzt oder später gekündigt zu werden.

Wir haben ein Haus mit Garten – und leben hier zu zweit. Ich kann selbst bei einer strikten Ausgangssperre noch an die frische Luft. Gerade gestern habe ich einmal mehr gemerkt, wie sehr mich der Garten erdet. Selbst bei einer Quarantäne könnten mein Mann und ich uns noch aus dem Wege gehen, wenn das notwendig ist. Wir haben die finanziellen Mittel, uns die Rahmenbedingungen angenehm zu gestalten (gutes Essen, digitaler/telefonischer Kontakt, Netflix, Kauf von Waren übers Internet etc.). Ich verfüge über ausreichend Intellekt, um rational an diese Krise heranzugehen. Zahlen und Fakten kann ich interpretieren. Ich sehe auch ganz viele positive Aspekte, die die Corona-Krise mit sich bringt. Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass viele Menschen und wir als Gesellschaft gestärkt aus ihr hervorgehen.

Und doch bin im Moment zutiefst traurig über die Situation. Ich bin traurig über die vielen Toten, über alle, die in systemrelevanten Berufen gerade über ihre Grenzen hinaus arbeiten. Was ist das überhaupt für ein Wort? Systemrelevante Berufsgruppen. Das sind Menschen, die sich im Moment für uns aufopfern! Ich bin traurig über Vollidioten wie Trump, Putin und Johnson, die mit ihrer grenzenlosen Egozentrik ihrem Volk und dank unserer Globalisierung der ganzen Welt schaden. Die Liste könnte ich mit noch viel mehr Beispielen fortführen.

Ich war die letzte Zeit mit Krisenkommunikation und meine Arbeit irgendwie organisatorisch über die Bühne zu bringen so beschäftigt, dass ich gar nicht dazu gekommen bin in Ruhe nachzudenken. Das ist jetzt anders. Gedanken-Ping-Pong.

Dass Corona mich emotional am Wickel hat, ist mir in dem Moment klar geworden, in dem ich auf Instagram einen Beitrag meines eigenen Kindes gelesen habe und exakt meine Gedanken wiederfand. Es ging darum, dass sie selbst sich trotz Ausgangssperre in Barcelona in einer glücklichen Lage befindet, sich stets von uns und ihren Freunden unterstützt fühlt, egal welche Entscheidungen sie auch trifft und dass es im Gegensatz zu ihr so viele Menschen gibt, denen es richtig schlecht geht im Moment.

Obdachlose, die auf der Straße leben und von der Polizei gejagt werden. In Barcelona ist das eindeutig so. Die Guardia Civil wird dort von vielen als Bedrohung empfunden und nicht als Helfer. Ganz ehrlich? Das ist der letzte Dreckshaufen!

Mitarbeiter in der Gastronomie, stellvertretend für viele andere Branchen, die von einem auf den anderen Tag ihre Jobs los sind.

Die sogenannten gefährdeten Personengruppen, die wirklich um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie mit Corona infiziert werden. Meine Mutter gehört dazu, lebt alleine, 120 km entfernt. Das ist hart!

Menschen, nicht nur alte, die aus welchen Gründen auch immer isoliert leben und deshalb nicht wissen, wie sie an Lebensmittel kommen oder welche Hilfsorganisationen sie kontaktieren können

Schulkinder, deren einzige Mahlzeit am Tag das Schulessen ist.

Frauen und Kinder, die zuhause missbraucht werden und keine Möglichkeit haben, dem jetzt wenigstens zeitweise zu entfliehen.

Arbeitslose und Kranke, die auf die Spenden der Tafel angewiesen sind.

Straßenkünstler, die mit ihrem Geld ihre Familien im Ausland finanzieren und deren Einnahmen jetzt bei null sind.

Mit anderen Worten: all die Randgruppen unserer Gesellschaft, die wir oft so gerne ausblenden. Denen geht es jetzt richtig, richtig dreckig.

Und gerade jetzt nicht bei Merle sein zu können, die sich so viele Gedanken um andere macht, ist für mich persönlich hart. Dass es meiner klugen, freiheitsliebenden und so viel wie möglich draußen lebenden Tochter nicht gutgehen kann, obwohl sie nie anderes mir gegenüber behaupten würde, nimmt mich mit. Als ich ihren Instatext las bin ich in Tränen ausgebrochen.

Es ist wichtig, dass wir alle uns jetzt auch um unsere mentale Gesundheit kümmern. Es ist notwendig die Trauer um den Verlust der Normalität zuzulassen, zu akzeptieren. Aber wir müssen auch Möglichkeiten finden, die Chance und das Positive zu sehen und für uns selbst Handlungen abzuleiten.

Das war jetzt noch nicht der Mutmachtext, den ich ursprünglich im Kopf hatte. Es war erstmal ein bisschen Status Quo. Aber ich glaube, dass ich noch sehr viel Zeit haben werde für weitere Tagebucheinträge.

Jetzt erstmal den zweiten Kaffee des Tages und ein bisschen den von Corona völlig unbehelligten Kater kraulen. Der ist psychisch im Lot, bekommt er doch mehr Streicheleinheiten als sonst. Vielleicht sollten wir ein bisschen mehr kraulen, wenn wir nicht alleine leben.

Ansonsten: Bleibt zuhause und gesund!

PS: Gerade wurde die Sonntagszeitung in unseren Briefkasten geworfen. Von einem Verteiler mit Mundschutz und Handschuhen. Vielen Dank, Extratipp-Willich!

©Andrea Steffen

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